Bericht Tag 5

„Wir sind zwar Überlebende, aber wir wollen trotzdem ein schönes Leben und glücklich führen.“

Unser Tag startete nach einer erholsamen Nacht mit einem erneuten Treffen mit Überlebenden der ersten Generation. Sie erzählten uns, dass sie alle drei in Semei oder Umgebung, in der Nähe des Atomwaffentestareals, lebten. Dmitry erzählte von seinen Krankheiten, die er aufgrund der radioaktiven Strahlung hat. So alltägliche Dinge, wie eine Kaffeetasse zu halten, kann schon ein Problem für ihn sein. Die jüngste Person, die als Betroffene der Atomwaffentests registriert wurde, ist 34 Jahre alt. Das spiegelt zwar sicherlich nicht die Realität wieder, aber zeigt dennoch, dass die Tests massive Auswirkungen auf die zweite, dritte, vierte und sogar fünfte Generationen haben.

Wir sprachen an diesem Tag zwar nur mit betroffenen Männern, weshalb Maira noch einmal betonte, das die gesundheitlichen Folgen auf Frauen sich von denen auf Männern unterscheiden. Jede Frau, wenn sie schwanger wird, hat Angst davor, dass ihr Kind womöglich von den Folgen der Atomwaffentests betroffen sein wird. Es braucht auch in diesem Bereich mehr Forschung, damit das Stigma gegenüber Menschen aus der Region des Testgeländes abgebaut wird. Manche Menschen erhalten beispielsweise keine medizinische Versorgung, da die Ärtz*innen nicht wissen, welche Krankheiten sie haben.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Leute aus der betroffenen Region während der sowjetischen Zeit der Atomwaffentests nicht das Recht hatten, dazu Fragen zu stellen. Daher stellen viele Menschen auch heute keine Fragen dazu an ihre Regierung. Stattdessen beten die Menschen, dass sie oder ihre Familie nicht krank wird. Zudem haben viele Menschen Angst vor Autoritäten und davor kritische Fragen zu stellen.

Die gehörten Geschichte sollen uns und alle, die sie lesen, als Warnung dienen. Für die Überlebenden und Betroffenen sind diese Geschichten nicht einmal tragische Geschichten, wie sie es für uns sind, sondern ihre „normale“ Geschichte. Bei einigen der Überlebenden hat bereits eine gewisse Resignation eingesetzt, denn es interessieren sich immer wieder Menschen aus dem Ausland für ihre Geschichten, aber sie sehen selten, dass diese Besuche zu tatsächlichen Ergebnissen führen. Es gibt in diesem Bereich einige offene Fragen, deren Antworten für alle Betroffenen wichtig wären: Wie viele Überlebende gibt es insgesamt? Wie können sie beweisen, dass ihre Krankheiten mit den Atomwaffentests in Verbindung stehen? Wie sieht die aktuelle medizinische Forschung dazu aus?

Ein Teil der Fragen konnten wir zu unserem nächsten Treffen mit dem medizinischen Forschungsinstitut der Semey Universität mitnehmen. Dort wurden den persönlichen Geschichten Zahlen und Fakten gegenübergestellt. Alexandra Lipikhina (Deputy Director for Scientific Work) klärte uns über die detaillierten Fakten des Testgeländes auf: es wurde am 21.08.1947 eröffnet und der erste Test fand am 29.08.1949 statt. Der letzte Test fand 40 Jahre später am 19.10.1989 statt, das Gelände wurde offiziell am 29.08.1991 geschlossen. In dieser Zeit fanden insgesamt über 465 Atomwaffentests, darunter 88 atmosphärische, 30 Boden- und 347 Untergrundtests, statt. Das gesamte Testgelände erstreckte sich auf ca. 18.500 km2. Nach dem Ende der Tests wurden 1992 die verschiedenen Teilregionen nach der Strahlenbelastung bewertet. Aufgrund dieser Bewertung wird auch heute noch entschieden, wie viel Entschädigung den betroffenen Menschen zusteht. Im März 1957 wurde eine spezielle sowjetische medizinische Einheit unter strengster Geheimhaltung in der Stadt Semei gegründet, die über 100 Berichte zu den Auswirkungen der Atomwaffentests verfasste. Wir saßen genau in diesem Gebäude, während uns erklärt wurde, was diese medizinische Einheit tat. Ein Großteil der angefertigten Berichte wurden nach der Schließung zerstört, ein Teil wurde nach Moskau mitgenommen und einige wenige wurden zurückgelassen. Die gesamte Forschung bezieht sich auf diese wenigen zurückgelassenen Dokumente und bisher hat es niemand geschafft, Zugang zu den geheimen Dokumenten in den russischen Archiven zu erhalten. In dem heutigen Forschungsinstitut werden betroffene Menschen behandelt und vor allem registriert. Das „State Scientific Automated Medical Register“ ist das Registrierungssystem, in welchem bereits 373.686 Menschen von der ersten bis zur fünften Generation registriert wurden. Davon sind 241.912 Menschen noch am Leben und 130.774 bereits verstorben. Auf dieser Grundlage werden alle Forschungen getätigt und gut die Hälfte der Forschung zu Strahlungen und deren medizinischen Auswirkungen findet in Qazaqstan direkt statt, manchmal auch in internationalen Forschungsprojekten. Es wird allerdings geschätzt, dass die Gesamtzahl aller Menschen, die auf irgendeine Art und Weise von den Tests betroffen sind, bei 1,5 Millionen liegt! Der Grad der Betroffenheit unterscheidet sich auch, je nachdem, ob die Menschen die atmosphärischen Tests, die bis 1963 durchgeführt wurden, erleben mussten oder die späteren Untergrundtests.

Am Nachmittag hatten wir noch die Möglichkeit die „Alikhan Bokeikhan Universität“ und die „Shakarim Universität“ zu besuchen. Bei der ersten Universität wurde uns erzählt, dass der Name Semei aus der Turksprache kommt und „heiliges Land“ bedeutet. In der Abai Region gibt es zudem einen Berg, der übersetzt der Ziegenberg heißt, unter welchem die Untergrundtests durchgeführt wurden. Maira betonte vor den anwesenden Studierenden., wie wichtig es ist, dass sie und wir alle aktiv werden und Änderungen von unseren jeweiligen Regierungen fordern. An der „Shakarim Universität“ durften wir über die Forschung der naturwissenschaftlichen Bereiche zu den Atomwaffentests lernen. So war auch der bekannte Professor Sergey Dyusembaev anwesend. Diese Forschung ist insbesondere für die zukünftigen Generationen von großer Wichtigkeit, damit beispielsweise das Land in Zukunft wieder für Landwirtschaft, aber auch touristische Zwecke genutzt werden kann.