Alex Rosen (40) kommt dieses Jahr mit seinem 4-jährigen Sohn ins Camp und freut sich darauf, ihm zu vermitteln was es bedeutet, sich gemeinsam mit vielen Menschen für eine gute Sache einzusetzen.
Interview mit Alex Rosen (40), Oberarzt die Kindernotaufnahme der Charité
1. Warum engagierst du dich für nukleare Abrüstung?
Meinen Aufwach-Moment hatte ich, als ich als junger Student einmal in der wunderschönen ungarischen Hauptstadt Budapest war. Hoch über der Donau und dem Rest der Stadt gelegen, thront dort die Burg von Buda. Auf dem zentralen Burgplatz, mitten in diesem wunderschön urigen Bauwerk, ist ein kleines rotes Fadenkreuz in den Boden eingelassen. Ich habe mich lange gefragt, was das bedeuten sollten, bis ich schließlich in einer Ecke des Burgfrieds eine kleine Plakette fand, die besagte, dass das Fadenkreuz die exakten Zielkoordinaten der NATO-Atombomben darstellte. So eindrücklich war mir der Schrecken des Kalten Krieges und die reale Bedrohung durch Atomwaffen nie vor Augen geführt worden.
Die Vorstellung, dass Menschen Waffen entwickeln können, deren einziges Ziel es ist, eine vermeintlich „gegnerische“ Zivilbevölkerung in einem atomaren Massenmord auszulöschen und ganze Städte buchstäblich in Asche zu verwandeln – das braucht viel Überwindung, um das wirklich als Realität zu akzeptieren.
Der Besuch der US-Atomwaffenstützpunkte in Ramstein und Büchel, mehrere Demos am britischen Atom-U-Boothafen Faslane und der eindrückliche Besuch des ursprünglich sowjetischen Atomwaffentestgeländes in Semipalatinsk haben mir weitere Facetten dieser schrecklichen Realität nahe gebracht.
Aber kein Erlebnis hat mich so nachhaltig geprägt, wie der Besuch in Nagasaki und Hiroshima. In Nagasaki traf ich eine alte Frau, die als Kind die atomare Zerstörung ihrer Stadt in einem Keller überlebt hatte – eine Hibakusha. Wir waren damals mit einer Posterausstellung an einer Schule gewesen, die unter anderem ein Foto der Bombardierung Nagasakis beinhaltete. Die Frau fragte mich, was ich auf dem Bild sehen würde. Ich dachte nach und sagte schließlich: „Die Pilzwolke der Atombombe Fat Man“. Sie schwieg lange und sagte mir dann: „Siehst du, und das ist der Unterschied. Ich sehe etwas anderes. Ich sehe in dieser Wolke, deren Staub aus der verbrannten Überresten meiner Stadt besteht meine Kindheit. Ich sehe meine beste Freundin, meinen Hund, meine Eltern, unser Haus, unseren Garten, meinen geliebten Park mit den schönen Bäumen und der kleinen Brücke, auf der ich so gerne mit meiner Cousine saß. Ich sehe den Süßigkeitenstand, vor dem ich als Kind immer stehen blieb und das Gartenhaus meiner Großeltern, in dem wir Verstecken spielten. Ich sehe all die Dinge, die unwiderruflich von einer Sekunde auf die andere von dieser Erde verschwunden sind. Sie wurden in Asche verwandelt und dort oben in der Wolke sind sie ein letztes Mal sichtbar, bevor sie sich im Himmel auflösen. Verstehst du jetzt, weshalb ich mir dieses Bild nicht anschauen kann?“
Die Erinnerung an die Hunderttausende von Opfern der beiden Atombombenabwürfe und der mehr als 2.000 Atomwaffenexplosionen seit 1945 gebietet uns, uns dafür einzusetzen, damit nie wieder Städte zu Zielscheiben werden, damit nie wieder Atomwaffe detoniert werden. Deshalb engagiere ich mich für die Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen.
2. Warum bist du bei der IPPNW aktiv?
Wenn man die Welt einmal in Gedanken als eine große Maschine sieht, dann können wir uns glaube ich alle darauf einigen, dass diese Maschine ziemlich kaputt ist, dass sie an vielen Stellen längst nicht mehr so funktioniert, wie sie vielleicht irgendwann einmal konzipiert wurde. Wir alle haben die Möglichkeit, unseren Teil dazu beizutragen, diese alte, rostige und klappernde Maschine wieder auf Vordermann zu bringen. Jetzt kann man versuchen, in seinem unmittelbarem Umkreis ein paar Schrauben fest zu ziehen oder Hebel zu ölen. Als Kinderarzt in einer Notaufnahme kann ich jeden Tag im Kontakt mit meinen kleinen Patient*innen und ihren Eltern, in der Ausbildung von Medizinstudierenden und Assistenzärzt*innen oder in der Interaktion mit meinen Kolleg*innen ein kleines bisschen dazu beitragen, dass diese große Maschine Welt hoffentlich ein bisschen besser läuft. Aber wenn ich ein paar Schritte zurück gehe und sehe, wie viel noch zu tun wäre und wie groß die Probleme eigentlich in Wirklichkeit sind, fällt es leicht, die Motivation zu verlieren, zu verzweifeln oder sogar aufzugeben. Was hilft es, wenn ich in meiner kleinen Notaufnahme eine Platzwunde nach der anderen zusammenklebe oder eine Lungenentzündung mehr oder weniger behandele, wenn weltweit Menschen aufgrund von Kriegen und Konflikten leiden, sterben und ihre Heimat verlassen müssen, wenn Menschen verhungern oder an verhinderbaren Krankheiten sterben, weil sie keinen Zugang zu Impfungen hatten?
Hier kommt die IPPNW ins Spiel. Denn der Arztberuf ist nie allein eine Dienstleistung gewesen. Der Arzt war nicht nur ein Heiler von Menschen, sondern aufgrund seines Verständnisses von Krankheit und Gesundheit auch immer ein Heiler von Gesellschaften. Rudolf Virchow hat gesagt: „Medizin ist eine soziale Wissenschaft und Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen“. Er hatte Recht. Wenn wir die wirklich großen Hebel bewegen, die wirklich wichtigen Veränderungen anstoßen wollen und die Maschine Welt grundsätzlich reparieren wollen, dann müssen wir als Mediziner immer auch politisch denken und handeln. Wir müssen unser Wissen um das, was Menschen krank macht und das, was sie gesund hält, in politische Forderungen ummünzen und uns für diejenigen einsetzen, die sich nicht selbst helfen können. „Der Arzt ist der natürliche Anwalt der Armen“ – ein weiteres Virchow-Zitat. Auf diesen Grundlagen basiert die Arbeit der IPPNW.
Mit medizinischen Argumenten und aus humanitärer Überzeugung einen Atomkrieg verhüten – auf die Idee muss man erstmal kommen. Zwei Kardiologen, einer aus den USA, einer aus der UdSSR, wollten sich Ende der Siebziger Jahre, zum Höhepunkt des Kalten Krieges, nicht länger mehr mit Symptomen befassen. Sie wollten die größte gesundheitliche Bedrohung der Menschheit angehen – die Gefahr eines Atomkriegs zwischen ihren beiden Ländern. Fünf Jahre nach der Gründung der IPPNW wurden Evgenij Chazov und Bernard Lown für ihre wichtige Überzeugungsarbeit mit dem Friedensnobelpreis geehrt, denn sie hatten es geschafft, Gorbatschow und Reagan mit ihren Argumenten an den Verhandlungstisch zu bringen. Wir haben noch viel zu tun: Der Weg hin zur Abschaffung von Atomwaffen ist lang und steinig, aber wir gehen ihn nun schon viele Jahre unbeirrt und zielstrebig, wir sind nicht allein und werden immer mehr und unsere Schritte werden derzeit wieder länger und kräftiger. Seit wir es geschafft haben, die Debatte um Atomwaffen in humanitäre Kategorien umzulenken, haben wir Fortschritte gemacht, von denen wir früher nicht hätten träumen können. Desinvestitionen von internationalen Banken und Rentenfonds, weltweite Unterstützung von Bürgermeister*innen für den Frieden, vom Internationalen Roten Kreuz, dem Weltärztebund, dem Papst, dem Dalai Lama und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und Graswurzelaktivismus in fast allen Ländern der Erde – und alles mit einem Ziel: Atomwaffen ächten, ihnen jegliche Legitimität zu nehmen und sie dann genauso abzuschaffen wie alle anderen Massenvernichtungswaffen. Das ist die einzige rationale und realistische Antwort auf die Bedrohung, die von Atomwaffen ausgeht – alles andere wäre Wahnsinn.
3. Was bedeutet Büchel für dich?
Ich war jetzt schon oft in Büchel und jedes Mal wieder läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich bedenke, dass hier, an diesem idyllischen Fleckchen in der Eifel, Massenvernichtungswaffen stationiert sind, deren Abwurf über vermeintlich „gegnerischen“ Zielen regelmäßig von den dortigen Luftwaffenpiloten geübt wird. Man muss sich das mal vorstellen – deutsche Bomberpiloten trainieren allen Ernstes im Jahr 2020 den Abwurf von Atombomben über russischen Zielen. Gleichzeitig tut die Bundesregierung so, als würde sie sich auf dem diplomatischen Parkett für eine atomare Abrüstung einsetzen. Solange wir anderen Ländern damit drohen, ihre Zivilbevölkerung mit völkerrechtswidrigen Massenvernichtungswaffen auszulöschen, haben wir nicht das Recht, irgendeinem anderen Land etwas von Abrüstung zu erzählen. Deshalb steht Büchel für mich persönlich auch für die Verlogenheit der deutschen Außenpolitik und dem Beharren auf der Doktrin der nuklearen Abschreckung.
Das wäre so, als würde ich einem anderen Menschen die Pistole an den Kopf halten und das als Beweis meiner Friedfertigkeit propagieren. Ohne einen echten Frieden mit Russland wird es in unserem gemeinsamen Haus Europa keinen Frieden geben. Für einen solchen Frieden braucht es aber keine atomare Bedrohung und auch keine Raketenabwehrsysteme oder NATO-Manöver. Es braucht vertrauensbildende Maßnahmen, eine europäische Sicherheitsarchitektur, multilaterale Verträge, die Abrüstung ermöglichen und echte Sicherheit schaffen. Gerade sind wir dabei, die existierenden Verträge einen nach dem anderen zu entsorgen und inmitten der Ruinen unserer Sicherheitsarchitektur steht nun diese kleine Nest in der Eifel mit seinen 20 Atomwaffen und unsere Sicherheitspolitiker wollen uns erzählen, dass sie unsere beste Strategie sind, um in Sicherheit und Frieden mit unseren Nachbarn zu leben. Was für eine Vermessenheit.
4. Wie sieht dein Engagement für nukleare Abrüstung vor und nach Büchel aus? Wie bist du aktiv?
Als Medizinstudent habe ich, gemeinsam mit IPPNW-Kommiliton*innen aus aller Welt Anti-Atom-Fahrradtouren organisiert – rund um die Ostsee, durch Estland, Russland und Finnland, zum Beispiel, von Pakistan nach Indien, durch Großbritannien, von Deutschland durch Frankreich in die Schweiz oder durch Japan. Auf dem Weg haben wir mit Politikern, Medien und der Bevölkerung über die Gefahr durch einen Atomkrieg gesprochen und die humanitären Folgen von Atomwaffen, über Uranbergbau, Atomwaffentests und der Verantwortung der jungen Generation für das atomare Erbe. 2006 habe ich im Internationalen Vorstand der IPPNW eine Kampagne mit auf dem Weg gebracht, die die Abschaffung von Atomwaffen forderte. Diese Kampagne, ICAN, der ich immer noch angehöre, wurde nun 2017 ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Zusammen mit zahlreichen Medizinern in aller Welt haben wir 2012 eine Ausstellung konzipiert, die sich die gesamte atomare Kette anschaut – vom Uranbergbau über die zivile und militärische Atomindustrie bis hin zum Atommüll, dem radioaktiven Niederschlag und dem radioaktiven Abraum. Die Ausstellung heißt „Hibakusha Weltweit“ und ist den vielen Hunderttausenden gewidmet, deren Leben und Gesundheit durch die Atomindustrie geschädigt wurde. Außerdem habe ich die internationale Kampagne Target X gegründet, die auf Marktplätzen und in Stadtzentren mit einem großen roten Fadenkreuz darauf aufmerksam macht, dass jede Stadt eine potentielle Zielscheibe ist, so lange weiterhin Tausende von Atomwaffen weltweit stationiert sind. Diese Aktionen führen immer zu viel Aufmerksamkeit und regen nicht selten einen intensiveren gesellschaftlichen Diskurs über die Gefahren von Atomwaffen an. Und rate mal, woher die Idee für diese Aktion stammt? Von dem kleinen roten Fadenkreuz in der Burg von Buda…
Dieses Jahr jähren sich die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki zum 75. Mal. Das ist eine Gelegenheit, inne zu halten und zu gedenken, aber auch Kraft zu sammeln und den Druck auf die Politik nochmal deutlich zu erhöhen.Trotz der Coronavirus-Pandemie werden wir auch dieses Jahr wieder in Büchel protestieren und den Atomwaffenverbotsvertrag feiern, der im Juli 2017 von 122 Staaten, also von mehr als 2/3 der Staatengemeinschaft, verabschiedet wurde und jetzt kurz davor steht, geltendes Völkerrecht zu werden. Dieses Jahr komme ich mit meinem vierjährigen Sohn nach Büchel und freue mich schon auf das gemeinsame Erlebnis im Anti-Atom-Camp, den Abenden am Lagerfeuer und darauf, ihm dieses positive Erlebnis vermitteln zu können, sich gemeinsam mit vielen anderen Menschen für eine gute Sache einzusetzen. Trotzdem hoffe ich, dass wir bald nicht mehr nach Büchel kommen müssen, wenn die Atomwaffen hoffentlich bald abgezogen werden und Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt. Man darf ja noch träumen, oder? …